Anna Konjetzky & Co

WE ARE HERE // KULTURA EXTRA

WE ARE HERE // KULTURA EXTRA

(Tanz-)Bilder einer Großstadt

KULTURA-EXTRA, 21. Juli 2021 // Autor: Petra Herrmann
WE ARE HERE von Anna Konjetzky – jetzt auch in München
Corona hatte die Choreografin Anna Konjetzky arg gebeutelt. Zwei Premieren mussten abgesagt werden, eine ist wohl für immer gestorben. Aber jetzt: We are here.

Elf Tänzerinnen und Tänzer [Namen s.u.] durften endlich wieder zeigen, was sie drauf haben. Ihre Partner: ein tiefer, grauer Raum (Andrey von Schlippe), Licht und Schatten. Es trägt sie eine starke Basis, die eindrucksvolle Soundcollage aus Geräuschen einer Großstadt von Sergej Maingardt.

Alles beginnt mit Soundschleifen, die aus einer Fußgängerzone stammen könnten, einem Bahnhofsvorplatz, einer U-Bahn-Haltestelle. Alltag in town. Die Menschen, in grau, beige und braun, sind bis auf ein paar Farbtupfer in „gedeckten“ Tönen gewandet (Kostüme: Charlotte Pistorius) und scheinen gelangweilt zu warten. Jede und jeder für sich. Tonfetzen setzen sie in Bewegung, abrupte Stille friert sie ein. Die Szene nimmt Fahrt auf und erinnert an das alte Kinderspiel: stoppte die Musik, durfte man sich nicht mehr rühren. Das sah damals komisch aus. Die Kinder lachten.

Dieses erwachsene Tanzspiel jedoch hat nichts Fröhliches. Die Menschen verharren oft in Schreckstarre, irgendwoher atmet es schwer. Aus dem Geräuschteppich steigt immer wieder ein pulsierender Rhythmus auf. Die Moves schalten sich gleich, die Schatten der Tänzer spielen mit. Verleitet diese akustische Umgebung zu Uniformität? Auf jeden Fall funktionieren die Menschen wie Rädchen in einem Getriebe. Zwar lösen sich einzelne Tänzer*innen hin und wieder aus der Gruppe, nehmen sich Freiräume, ihre Schritte sind dann unnatürlich laut, sie schlenkern mit den Armen, doch bald schon zucken und zittern sie aufs Neue zum Beat der Stadt: Baulärm? Eine Stadtbahn? Bremsen? Sirenen? Alles geht wild durcheinander, im Großstadtdschungel brüllen Löwen, heulen Hunde, Paarungen sind flüchtig und zufällig.

Je höher der Geräuschpegel steigt, umso mehr verdichten sich Aggressionen, Angst und Erschöpfung. Dazu verengt sich der Bühnenraum. Er verliert immer mehr an Tiefe. Am Ende stehen alle Figuren aufgereiht wie auf einer schmalen Rampe. Kein Platz mehr. Der Tanz ist zu Ende. Stille. Aber dann lauter, verdienter Beifall.

Anna Konjetzkys vielfach ausgezeichnete Arbeiten werden national und international gezeigt. Sie kreiert auch Stücke für etablierte Tanzcompagnien und realisiert ihre eigenen Stücke seit 2014 in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen. Seit 2019 agiert sie als Anna Konjetzky&Co. Mit einem festen Team hat sie in München den PLAYGROUND gegründet, einen Ort, an dem Tänzer*innen ihr Wissen erweitern können.

Einmal mehr war ihr mit We are here, einer Produktion des Saarländischen Staatsballets von vor zwei Jahren, ein sehr starkes Stück gelungen.

WE ARE HERE // Abendzeitung München

WE ARE HERE // Abendzeitung München

„We are here“: Stop und Go in der Muffathalle

Abendzeitung München, 21. Juli 2021 // Autor: Vesna Mlakar
„We are here“ – ein Tanzstück von Anna Konjetzky, das am Mittwoch noch einmal in der Muffathalle aufgeführt wird.

Schluss mit klein, dachte sich Anna Konjetzky. Die Tänzer der freien Szene müssen endlich wieder raus ins Rampenlicht und dabei ihre Energien bündeln.
Nach unzähligen Absagen und Projektverschiebungen im Zuge der Covid-19-Krise und ihrem emotionalen Lass-alles-Aufgestaute-an-Gefühlen-raus-Soloprojekt „Über die Wut“ entschloss sich die weit überregional erfolgreiche Münchner Choreografin zu einem Experiment, das in seiner Umkehrung jenem vergleichbar ist, mit dem das Ballett des Gärtnerplatztheaters die 30. Tanzwerkstatt Europa eröffnet: neue, anders „tickende“ Körper toben sich in unter gänzlich anderen Bedingungen entstandenen Stücken aus.

Newcomer und erfahrene Joker wickeln Zuschauer um den Finger
Nur dem Zufall ist dieses kongeniale Zusammentreffen zu verdanken. Man kann nur empfehlen, das auch auszukosten. Schon in der Generalprobe von „We are here“ wickeln junge Newcomer wie João Santiago und Oliver Pertiglieri mitsamt starken Frauen (Aurora Bonetti, Eleonore Bovet, Erica D’Amico, Chiara Viscido) und flankiert von immer guten erfahrenen Jokern à la Guido Badalamenti, David Cahier, Sahra Huby, Quindell Orton oder Alfonsos Fernández Sánchez den Zuschauer locker um den Finger. Jeder hier hat Unikatcharakter. Und das in einer Freakshow von alltagsgelangweilten Typen, die innerhalb eines neutral-grauen Raums diversen akustischen – mal angenehmen, meist aber stressig-bedrohlichen – Szenarien ausgesetzt werden.

Konjetzkys Wahl fiel auf ihr gerade wieder rechtefreies Stück, das sie im Mai 2019 mit dem Saarländischen Staatsballett uraufgeführt hatte. Nun verantworten, nach Monaten der Unsichtbarkeit, elf lokale Performer die Premiere der Münchner Neueinstudierung. Die Kostüme mitsamt dem unmerklich raffiniert den Platz stetig verkleinernden Original-Bühnenset bekam man geliehen. Das verpasst dieser Produktion den vereinnahmend professionellen Look. Zur Ruhe kommt man beim Zusehen allerdings nicht.

Klangideen prallen auf Bewegungsmuster
Ganz offensichtlich wurde die zum Ende hin immer waghalsigere solistische Highlight-Momente abfackelnde Show im Sinne einer gedanklichen Bedienung von Play- und Pausentaste kreiert. Sogkraft entwickelt sich folglich aus einem ständigen Stop und Go. In jeder Sequenz wird irgendein Motiv schallwellenartig auf die Spitze getrieben.

Ständig prallen Klangideen (Sergej Maingardt, mit unzähligen Effekten von lauten Pingpongbällen bis zu Raubtiergebrüll) und Bewegungsmuster gegeneinander. Nach gut 50 Minuten persönlicher Assoziationsausbeutung bekommt man dann fast alles nochmals per weich gesoftetem Schnelldurchlauf vorgespielt. Auch das musikalische Universum rauscht einem zeitlich eingedampft zum Schluss ein weiteres Mal laut um die Ohren. Top ausgeklügelt, dieser herausfordernd-fiese Spaß!

WE ARE HERE // Saarbrücker Zeitung

WE ARE HERE // Saarbrücker Zeitung

Die getanzte Kernschmelze

Saarbrücker Zeitung, 31.5.2019 // Autor: Cathrin Elss-Seringhaus
Saarbrücken. Sie war herausfordernd, die Uraufführung von Anna Konjetzkys Tanzstück „We are here“ – und sie bekam Riesenapplaus in Saarbrückens Alter Feuerwache.

Man war vorgewarnt. „Ground“ hieß Anna Konjetzkys erste Arbeit für das Saarländische Staatstheater (SST), es entstand 2017. Es war ein kompromisslos ungefälliges 30-Minuten-Stück, das Tänzer wie Publikum an die Grenzen brachte. Womöglich deshalb kündigte das SST Konjetzkys zweite Arbeit als „avantgardistisch“ an, um gleich zu sagen, wo‘s mit dieser freien Choreographin hingeht, die seit 2014 zusammen mit dem Münchner Kammerspielen produziert: nicht in die Komfortzone jedenfalls. Sie wird als mutige Pionierin geschätzt, beim Erforschen des Themas Architektur und Körper und damit zusammenhängender Wahrnehmungs-Verschiebungen. Das klingt sehr abstrakt, und „We are here“, das am Donnerstag in der Alten Feuerwache Uraufführung hatte, ist auch genau das: ein Bewegungs- Kompositions-Werk, das Illustration vermeidet und nicht mal unsere Assoziations-Lust stimulieren möchte. Wobei der Betrachter nicht um das ein oder andere Echo umhin kommt: die Szenerie mal einem Box-Ring, Techno-Dance-Floor oder U-Bahnhöfen zuordnet.

Man trifft die elf Tänzer, die die gesamte Aufführung als Gruppe präsent bleiben, in einem Straßen- Setting, vor drei dunkelgrauen, konisch zulaufenden Wänden (Bühne: Konjetzky/von Schlippe). Die schieben sich im Laufe des Stückes nach vorne, drängen die Tänzer am Ende auf eine schmale Bühnenrand-Linie. Trotzdem geht es hier nicht um klaustrophobische Beengung, sondern um die Variation von Aktions-Räumen. Die Tänzer tragen Sneaker, Jogginghosen, den lässigen Dresscode unserer Tage. Stehen rum, ihre Verlegenheit oder ihr In-Sich-Versunkensein paust sich durch ihre vermeintliche Starre, ihre Muskeln lockern sich zu Dehnübungen, die Bewegungen dynamisieren sich, wobei jeder Tänzer sein individuelles Muster des Alltags-Bekannten zeigt: Hin- und Her-Pendeln, Rum- Trippeln oder zügig Drauflosmarschieren. Mit jedem Atemzug, so scheint es, zieht jeder einzelne Tänzer ein neues Bewegungsregister und bleibt doch Teil der tänzerischen Einheit – synchrone Freiheit, Konjetzky hat ein großartiges Händchen dafür. Doch sie bremst die zunehmend temporeicheren Aktionen brutal ab, dann verharrt die Szene stumm wie nach einem Filmriss. Der Beobachter erkennt keine Systematik, aber er spürt einen zunehmenden Druck, die physische Anspannung und Anstrengung der Tänzer überträgt sich auf ihn. Denn immer vertracktere und irrwitzigere Körperhaltungen und Bewegungen verlangt die Choreographie ihnen ab, oft nur kleine Variationen und Verschiebungen. Unmenschlich, unbarmherzig, wie ein schweres Tuch wird ein Tänzer herum geschwenkt, andere Akteure führen sich wie aufgezogene Spielzeug-Äffchen auf. In Sekundenschnelle wechseln Impulse und Impressionen, bewundernswert bewegungspunktgenau mit der Musik von Sergej Maingardt, die hier mehr ist als ein Begleiter. Sie schiebt sich als zweite, als übermächtige Klang-Kulisse in den Bühnenraum, liefert mechanistisches Klackern, Kratzen, Knirschen, mixt Ping-Pong-Geräusche ein, Orgelklänge, Affenschreie oder Hundewinseln, schließlich ein Bestiengebrüll, das jedem Horror-Film Ehre machen würde. Das geht alles direkt ins Blut.

Gerade mal 60 Minuten lang dauert das Stück, es „abendfüllend“ zu nennen, ist dennoch angemessen, weil man sich fühlt, als habe man einer Tanz-Kernschmelze zugeschaut. Worum ging es? Wer diese Frage an das Bühnen-Geschehen richtet, wird unerlöst bleiben. Die Choreographin will, dass man sie ihr stellt und hat sie im Programmheft sehr genau beantwortet: Was passiert, wenn ich ähnliche Szenen unter veränderten Raum- und Klangbedingungen beobachte? Wie eine Wissenschaftlerin organisiert Konjetzky ihr Experiment und schickt die Tänzer in eine Studie, fordert ihnen einen sportlichen Kraftakt ab, bringt sie an ihre körperlichen Grenzen. Erschöpft nahm das wunderbare, leistungsstarke Ensemble den Riesen-Applaus des Publikums entgegen. Ja, das alles war sehr ernst, sehr anspruchsvoll, sehr intellektuell – und zugleich soghaft.