In mir drin – en moi // Süddeutsche Zeitung
Entsetzte Voyeure eines angekündigten Inzests
Süddeutsche Zeitung, Würmtal SZ, 09.11.2006 // Autor: Sabine Zaplin
Uraufführung des Tanzprojekts “In mir drin – en moi”
Julie Laporte und Choreografin Anna Konjetzky inszenieren im Gautinger Bosco eine beklemmend intime Peep-Show
Gauting: Es war eine verschworene Gemeinschaft, die sich am Dienstagabend im Bosco zur Vorstellung von “In mir drin – en moi” einfand, dem Tanztheater mit Julie Laporte, choreografiert und inszeniert von Anna Konjetzky. Nur zwanzig Zuschauer waren zugelassen, und das allein gab dem Abend den Reiz des Besonderen. Der Saal war dunkel, auf der Bühne stand ein Geviert aus zwanzig hölzernen Kabinen. Jeder Zuschauer wurde zu einer Kabine geführt, in der sich ein Haken für die Garderobe, ein Stuhl und der Kopfhörer befanden. Gegenüber der Tür ein Fenster, noch spiegelte dieses, vom Licht in der Kabine beleuchtet, das Gesicht des Zuschauers. Doch dann erlosch das Kabinenlicht, das Fenster gab den Blick frei auf einen Innenraum zwischen den Kabinen. (…) Im Karrée des Innenraumes stand Julie Laporte, ganz in Schwarz gekleidet. (…) Sie beginnt, diesen offensichtlich ihr nicht wirklich gehörenden Körper durch den eng abgesteckten Raum zu bewegen, ihn mit sich zu schleifen, ihn loszulassen. Dazu spricht sie, als spräche es aus ihr, einen nahezu gleichförmigen Monolog, die Zuschauer in ihren Kabinen verfolgen den Sprachstrom über die Kopfhörer, im französischen Original oder in deutscher Übersetzung. Von “Rasierklingen in den Mauern” ist die Rede, ein Bild, das Julie Laporte körperlich umsetzt, wenn sie vor den Wänden, vor dem Boden zurückzuckt. Etwas Ungeheuerliches, das erkennt jeder Voyeur in seiner Kabine, ist geschehen. Langsam, wie beim Schälen einer Zwiebel, entblättert sich die Geschichte, legt Julie Laporte sie frei, so wie sie ihre Haut freilegt, ohne sich dabei äußerlich zu entkleiden. Es ist ein Seelenstrip, und schon bald beginnen die in ihren Kabinen anonym hinter den Fenstern bleibenden Zuschauer sich zu fürchten vor dem, was sich unaufhaltsam offenbart: eine inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung, eine dadurch für die Tochter unmöglich gewordene eigene Sexualität und Individualität. Der schmale, sich durch den Raum windende Frauenkörper erzählt diese Geschichte, erzählt vom Vater, der in diesem Körper war. Es ist der Vater, der diesen Körper bewegt, weil er darin war, darin ist. “Ich bin tot, aber nicht tot”, spricht die Stimme in diesem Körper, der selber ein Grab geworden ist. Der sich die Schuhe des Vaters aus einer Holzkiste im Raum nimmt, in der zuvor der Kopf des Körpers einen Schoß gesucht hat. Der in den Schuhen des Vaters eigene Schritte zu gehen vergeblich versucht. Und die Stimme in diesem toten, bewegten Körper spricht von der Markierung, die er zu tragen hat. “Es gibt nur eine Sache, die zählt, die Markierung. Und er hat mich markiert.”
“In mir drin – en moi” ist inspiriert von dem Roman “Inzest” der Autorin Christine Angot. Regisseurin Anna Konjetzky, von der auch die Raumidee stammt, lässt die Akteurin Julie Laporte dabei bis an die Schmerzgrenze gehen, an die eigene und an die der Zuschauer.(…)